Mittwoch, 20. April 2011

Interpretation: "Nachtlied" (Joseph von Eichendorff, 1815)

Nachtlied (1815)


1  Vergangen ist der lichte Tag,
2  Von ferne kommt der Glocken Schlag;
3  So reist die Zeit die ganze Nacht,
4  Nimmt manchen mit, der's nicht gedacht.

               
5  Wo ist nun hin die bunte Lust,
6  Des Freundes Trost und treue Brust,
7  Des Weibes süßer Augenschein?
8  Will keiner mit mir munter sein?

               
9  Da's nun so stille auf der Welt,
10  Ziehn Wolken einsam übers Feld,
11  Und Feld und Baum besprechen sich –
12  O Menschenkind! was schauert dich?

               
13  Wie weit die falsche Welt auch sei,
14  Bleibt mir doch Einer nur getreu,
15  Der mit mir weint, der mit mir wacht,
16  Wenn ich nur recht an ihn gedacht.

               
17  Frisch auf denn, liebe Nachtigall,
18  Du Wasserfall mit hellem Schall!
19  Gott loben wollen wir vereint,
20  Bis daß der lichte Morgen scheint!


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Bei dem vorliegenden Gedicht „Nachtlied“ (1815) von Joseph von Eichendorff handelt es sich um ein Gedicht aus der Epoche der Romantik. Es handelt vom Einbruch der Dunkelheit am Ende des Tages sowie der Wirkung der Nacht auf das lyrische Ich.

Das Gedicht ist in fünf Strophen gegliedert; jede Strophe enthält vier Verse. Es liegt ein Paarreim mit dem Reimschema aabb, ccdd, eeff, gghh, iijj vor. Jeder Vers endet mit einer männlichen Kadenz. Zusammen mit dem Paarreim ergibt sich mit dem Metrum des vierhebigen Jambus und der gleichmäßigen Einteilung in die Strophen eine klare äußere Form des Gedichts. Dazu trägt bei, dass Eichendorffs „Nachtlied“ durchgängig im Zeilenstil geschrieben ist. Das gesamte Gedicht steht im Präsens.

In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich die gerade eintretende und Stunde um Stunde fortschreitende Nacht, in der es sich gerade in der Natur aufhält und aus der Ferne den Glockenschlag hören kann.
In der zweiten Strophe erinnert sich das lyrische Ich an den Tag und sehnt sich nach Liebe, Freude und seinen Bekannten.
In der dritten Strophe scheint die tiefe Nacht erreicht zu sein und das lyrische Ich beschreibt das, was es wahrnimmt: die Stille und die über das Land ziehenden Wolken, aber möglicherweise auch Ängste.
Wie in der ersten Strophe der christliche Glaube durch das Glockenläuten angedeutet wurde, spricht das lyrische Ich in der vierten Strophe von Gott, der der Einzige ist, der dem lyrischen Ich Beistand leitet und es versteht.
In der fünften und letzten Strophe fordert das lyrische Ich schließlich die Nachtigall und den Wasserfall – also die Natur – auf, Gott zu loben. Im letzten Vers wird deutlich, dass sich das lyrische Ich den Morgen herbeisehnt.

In Eichendorffs „Nachtlied“ spielen viele Motive, vor allem Sehnsuchtsmotive, eine wichtige Rolle. Viele der für romantische Gedichte typischen Motive und Symbole lassen sich auch in dem vorliegenden Gedicht finden.
Bereits zu Beginn des Gedichts beschreibt das lyrische Ich den von fern kommenden Schlag der Glocken (vgl. V. 2), woraus man schließen kann, dass es sich gerade außerhalb des Ortes, also der Zivilisation, in der Natur befindet. Hier zeigt sich das Motiv der Sehnsucht nach Ferne. Dies gilt auch für den folgenden Vers: „So reist die Zeit die ganze Nacht“ (V. 3). Hier taucht ebenfalls das Motiv der Sehnsucht nach Ferne auf, welches in diesem Falle mit dem Motiv des Wanderns oder Reisens einhergeht. Ein weiteres für romantische Gedichte typisches Motiv ist das der Sehnsucht nach Liebe, welches sich besonders in Vers 7 äußert. Das Motiv der Sehnsucht nach der Einheit von Mensch und Natur wird deutlich, indem sich in der dritten Strophe „Feld und Baum besprechen“ (V. 11) und das lyrische Ich fragen: „O Menschenkind! Was schauert dich?“ (V. 12). In den beiden letzten Strophen ist der Glaube ein zentraler Aspekt. Das lyrische Ich fühlt sich einsam in der „falsche[n] Welt (V. 13) und stellt fest: „Bleibt mir doch Einer nur getreu, / Der mit mir weint, der mit mir wacht“ (V. 14f.). Mit „Einer“ ist zweifellos Gott gemeint, der der Einzige ist, der dem lyrischen Ich beisteht und es versteht. Die große Distanz zwischen der „falsche[n] Welt“ (V. 13) und dem verständnisvollen Gott wird durch den einzigen unreinen Reim im Gedicht (sei – getreu, vgl. V. 13f.) verdeutlicht. In der folgenden Strophe fordert das lyrische Ich die Nachtigall (man beachte: einziger nächtlicher Singvogel) und den Wasserfall auf, gemeinsam Gott zu loben. Hier steht die Schönheit der Nacht und der Natur im Mittelpunkt.

Neben zahlreichen Motiven lassen sich viele Stilmittel in dem Gedicht finden. Auffällig sind Personifikationen, wie zum Beispiel die reisende Zeit (vgl. V. 3) oder Feld und Baum, die sich besprechen (vgl. V. 11). Durch die Personifikationen erhält das Gedicht ein gewisses Maß an Dynamik und klingt phantastischer. Die Natur wird so dargestellt, als hätte sie ein eigenes Wesen. Die rhetorische Frage „O Menschenkind! Was schauert dich?“ (V. 12) zeigt, dass es eigentlich gar keinen Grund gibt, Angst zu haben. Der Parallelismus in Vers 15 „Der mit mir weint, der mit mir wacht“ betont, wie verständnisvoll Gott dem lyrischen Ich erscheint und wie sehr er ihm in der „falsche[n] Welt“ (V. 13) beisteht. Ein weiteres auffälliges Stilmittel, nämlich das des Gleichklangs, findet sich in Vers 18 in der letzten Strophe. Durch das Spiel mit den Klängen erreicht die Beschreibung der Natur ihren Höhepunkt.

Neben diesen rhetorischen Mitteln fällt auch auf, dass überwiegend dynamische Verben Verwendung finden, wie zum Beispiel „reisen“ (vgl. V. 3), „ziehen“ (vgl. V. 10), „kommen“ (vgl. V. 2), und weniger statische Verben wie „wachen“ (vgl. V. 15) oder „scheinen“ (vgl. V. 20).

Viele Adjektive prägen das Gedicht. Es handelt sich bei ihnen fast nur um Adjektive, die etwas Positives wie Freude und Frieden ausdrücken, zum Beispiel “bunt“ (vgl. V. 5), „treu“ (vgl. V. 6), „süß“ (vgl. V. 7), „munter“ (vgl. V. 8), „still“ (vgl. V.9), „hell“ (vgl. V. 18), und kaum Adjektive, die etwas Negatives ausdrücken, wie zum Beispiel „einsam“ (vgl. V. 10) oder „falsch“ (vgl. V. 13). Aufgrund dieser doch recht positiven Wahrnehmung der Nacht würde ich sagen, dass das lyrische Ich zufrieden ist. Dem „positiven“ Adjektiv „licht[e] “ (vgl. V. 1; 20) kommt eine besondere Bedeutung zu, da es sowohl im ersten als auch im letzten Vers vorkommt und somit eine Verbindung zwischen Anfang und Ende des Gedichts herstellt. Man kann sagen, dass mit ihm die im Gedicht beschriebene Nacht beginnt und endet.

Eichendorff benutzt vor allem Wörter aus dem Wortfeld „Natur“, weshalb ich dieses Gedicht der Gattung der Naturlyrik zuordne.


Zweifellos handelt es sich bei Eichendorffs „Nachtlied“ um ein Gedicht der Epoche der Romantik.
Zum einen natürlich, da es von Joseph von Eichendorff geschrieben worden ist, einem der bedeutendsten Dichter aus der Epoche der Romantik.
Doch es lässt sich auch am Gedicht direkt festmachen, dass es sich um ein Gedicht der Romantik handelt. Auffällig ist der Naturbezug, der sich durch das gesamte Gedicht zieht. Außerdem spielen Liebe und Sehnsucht nach Ferne und Einheit von Mensch und Natur eine zentrale Rolle. Das Gedicht muss auch in seinem historischen Kontext gesehen werden. Zur Zeit der Romantik war es in Europa sehr unruhig. Grund dafür waren die Napoleonischen Kriege und die Französische Revolution. Eichendorffs „Nachtlied“ beschreibt nicht die Realität, sondern eine Phantasie- oder Traumwelt, in die die Romantiker durch Tod und Leid getrieben werden. Die Flucht ins Phantastische liegt aber auch an einem am Ende des 18. Jahrhunderts stattfindenden Mentalitätswechsel vom Vernunftglauben der Aufklärung fort hin zu dem Gefühl, das jetzt im Mittelpunkt steht.
Aufgrund dieser Aspekte bin ich davon überzeugt, dass es sich um ein Gedicht der Romantik handelt.

Das Gedicht gefällt mir gut, da es sich zum einen sehr gut lesen lässt, und zwar wegen der regelmäßigen und klaren äußeren Form, und auch vom Inhalt her ansprechend ist, da es eine interessante Phantasiewelt beschreibt.

1 Kommentar:

  1. Sehr ausführlich und gut geschrieben, besonders die Strukturierung des Textes ist gut gelungen! Interessant wie das Gedicht auf einmal einen Sinn bekommt :)

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