Freitag, 1. April 2011

Joseph von Eichendorff: "Nachtzauber", Interpretation und Analyse

Nachtzauber

1  Hörst du nicht die Quellen gehen
2  Zwischen Stein und Blumen weit
3  Nach den stillen Waldesseen,
4  Wo die Marmorbilder stehen
5  In der schönen Einsamkeit?
6  Von den Bergen sacht hernieder,
7  Weckend die uralten Lieder,
8  Steigt die wunderbare Nacht,
9  Und die Gründe glänzen wieder,
10 Wie du's oft im Traum gedacht.

11 Kennst die Blume du, entsprossen
12 In dem mondbeglänzten Grund?
13 Aus der Knospe, halb erschlossen,
14 Junge Glieder blühend sprossen,
15 Weiße Arme, roter Mund,
16 Und die Nachtigallen schlagen,
17 Und rings hebt es an zu klagen,
18 Ach, vor Liebe todeswund,
19 Von versunknen schönen Tagen –
20 Komm, o komm zum stillen Grund!


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Bei dem vorliegenden Gedicht "Nachtzauber" (1853) von Joseph von Eichendorff handelt es sich um ein Gedicht der Epoche der Romantik. Es beschreibt die Natur und ihre Schönheit bei Nacht sowie Liebeskummer des lyrischen Ichs.

Das Gedicht ist in zwei Strophen eingeteilt. In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich Empfindungen, die es in der nächtlichen Nacht wahrnimmt. Es berichtet von Quellen, Seen, Bergen und dem glänzenden Untergrund. In der zweiten Strophe erinnert sich das lyrische Ich an eine wachsende Pflanze, dann kommt es wieder auf das Leben in der Nacht zurück und äußert zum Schluss Liebeskummer und die Sehnsucht nach vergangenen Tagen.

Das vorliegende Gedicht "Nachtzauber" ist in zwei Strophen gegliedert, von denen jede zehn Strophen enthält. Das Reimschema lautet abaabccdcd efeefgghgh, es liegt also eine unregelmäßig wirkende Reimart vor, so lassen sich Paarreime (aa, cc), ein Kreuzreim (cdcd) sowie ein umarmender Reim (baab) finden. Die Verse enden sowohl auf männliche Kadenzen (vgl. V. 2, 5, 8, 10, 12, 15, 18, 20) als auch auf weibliche (vgl. V. 1, 3, 4, 6, 7, 9, 11, 13, 14, 16, 17, 19). Als Metrum liegt ein vierhebiger Trochäus vor. Das Gedicht ist im Hakenstil verfasst; sein Tempus ist Präsens, mit Ausnahme von Vers 10, der im Perfekt steht.
Es lassen sich zahlreiche Motive finden, die sich durch das Gedicht "Nachtzauber" ziehen: Zum einen die Sehnsucht nach Liebe und Ferne, zum anderen spielen auch die Nacht, eine Traumwelt sowie die Mystik eine wichtige Rolle. Auffällig sind viele Stilmittel, auf die ich in der folgenden Interpretation genauer eingehen werde.


In dem Gedicht "Nachtzauber" nimmt der Liebeskummer des lyrischen Ichs eine zentrale Rolle ein. Das Gedicht beginnt damit, dass das lyrische Ich die Schönheit der Natur beschreibt. Das lyrische Ich beschreibt die Situation in der Nacht als sehr positiv. Zwar ist es einsam, dennoch ist dies für das lyrische Ich eine "schöne[n] Einsamkeit" (V. 5). Die Nacht bezeichnet  das lyrische Ich sogar als "wunderbar" (V. 8). Erst in dem letzten Vers der ersten Strophe wird deutlich, dass es sich bei der vorher beschriebenen Situation um einen Traum handelt. Zwar stellt sich das lyrische Ich wahrscheinlich genau so die Nacht vor, dennoch sagt es: "Wie du's oft im Traum gedacht" (V. 10). Die beschriebene Schönheit der Natur bezieht sich also auf einen Traum oder eine Wunschvorstellung eines Menschen, der dem lyrischen Ich sehr nahe stand. Es handelt sich wahrscheinlich um die Trennung des lyrischen Ichs von eben diesem geliebten Menschen. Dass die Liebe zwischen ihnen nun vorbei ist, wird daran deutlich, dass dieser Vers als einziger Vers im Gedicht im Perfekt geschrieben ist. Dieser vorübergehende Tempuswechsel deutet die vergangene Liebe an und leitet auf die zweite Strophe über.
In dieser erinnert sich das lyrische Ich an die Liebe, die, wie eine Blume herangewachsen ist. "Weiße Arme, roter Mund" (V. 15) beschreibt eigentlich diese Blume, aus der "junge Glieder" (V. 14) sprießen, es kann aber auch als Metapher für den geliebten Menschen gesehen werden und sich dabei auf das weibliche Schönheitsideal des 19. Jahrhunderts beziehen.
Nach dieser Erinnerung an die vergangene Liebe ändert sich nun die Stimmung im Gedicht. Hat das lyrische Ich soeben noch alles positiv empfunden, zwar mit einer gewissen Sehnsucht an vergangene Tage, wird es nun von Liebeskummer ergriffen. Es beschreibt das Gefühl als "vor Liebe todwund" (V. 18). obwohl sich das lyrische Ich die geliebte Person sehnlichst "zum stillen Grund" (V. 20) herbeisehnt, sieht es ein, dass die schönen Tage "versunken" (vgl. V. 19) sind und es eigentlich unmöglich ist, dass die geliebte Person wieder zu dem lyrischen Ich findet.

Diese Sehnsucht nach Liebe, in diesem Fall die vergangene Liebe, ist ein Motiv, das das gesamte Gedicht prägt. Aber es lassen sich weitere Motive finden. Zum Beispiel sei an dieser Stelle die Sehnsucht nach Ferne zu nennen. Zwar sehnt sich das lyrische Ich in die Nähe des geliebten Menschen, doch ist dieser für ihn unerreichbar geworden. Das Motiv der Sehnsucht nach Ferne wird in den Versen sechs und sieben deutlich, wenn "von den Bergen sacht hernieder, / Weckend die uralten Lieder" (V. 5f.) klingen. Mit den Liedern könnte die Stimme der Geliebten gemeint sein, die zwar weit weg ist, aber an die sich das lyrische Ich gut erinnern kann.
Desweiteren kommt in dem Gedicht "Nachtzauber" eine Traum- oder Phantasiewelt vor. In dieser anderen Welt hält sich das lyrische Ich lieber auf, als in der realen. Dies zeigt, wie sehr es sich von der Geliebten angezogen fühlt. In der Phantasiewelt, die der ehemaligen Liebessituation entspricht, ist das lyrische Ich seiner Liebe näher. Eng verbunden mit dieser Traumwelt ist die Mystik in der Nacht, die positiv wie auch negativ aufgefasst werden kann.

Neben den Motiven finden auch zahlreiche Stilmittel Verwendung.

Das Gedicht beginnt mit einer rhetorischen Frage seitens des lyrischen Ichs, die es dem "Du" stellt. Zu Beginn des Gedichts ist seinem Leser die Situation des lyrischen Ichs noch nicht klar. Deswegen fühlt sich der Leser direkt angesprochen. Dies hilft ihm, in das Gedicht hineinzufinden.

Auffällig ist die Alliteration "Gründe glänzen" (V. 9). Dieses Stilmittel unterstreicht die Schönheit der Natur. Dem "Grund" (vgl. V. 9) kommt aber auch noch eine weitere Bedeutung zu: Mit den glänzenden Gründen endet die Beschreibung des Traums. Mit dem Traum wurde das Gedicht begonnen und er stellt einen wichtigen Teil des Gedichts dar. Was nun auffällt ist, dass das Gedicht mit dem Wort "Grund" (V. 20) abschließt. Zwar tritt das Wort Grund auch in der Mitte des Gedichts in Erscheinung (vgl. V. 12), dennoch verbindet es Anfang und Ende des Gedichts und spannt zwischen ihnen einen Bogen. Vergleicht man überdies die Bedeutung von "Quellen" (V. 1) und "stiller Grund" (vgl. V. 20) so lässt sich der Ablauf des Lebens erkennen, von der Geburt bis zum Tod.

Wie bereits erwähnt, findet ab Vers 16 eine Stimmungsänderung statt. Von den positiven Erinnerungen des lyrischen Ichs an die Geliebte, kommt es nun auf die negative Realität zurück und wird auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Dieser Wechsel von positiver zu negativer Stimmung im Gedicht wird durch die Anapher "Und die Nachtigallen schlagen, / Und rings hebt es an zu klagen" (V.  16f.) verdeutlicht. Zuvor war stille Nacht in dem Traum, dies ändert sich, indem die Nachtigall, der einzige nächtliche Singvogel, zu schlagen beginnt und den Stimmungswechsel einläutet.

Da das Gedicht im Hakenstil verfasst worden ist, lassen sich viele Enjambements finden. Die Zeilensprünge sorgen für eine gewisse Dynamik, der die eher ruhige Wirkung des Trochäus entgegensteht. Das unregelmäßige Reimschema sorgt ebenso für Dynamik. Dabei wird die Nacht als "still[en]" (V. 3, 20) dargestellt. Für mich deutet die Dynamik auf eine möglicherweise schnell vergangene Liebe hin, wobei ich an dieser Stelle nicht überinterpretieren möchte.

In dem Gedicht "Nachtzauber" spielt, wie bereits gesagt, die Natur eine zentrale Rolle. Es ist auffällig, wie viele Begriffe aus dem Wortfeld "Natur" Verwendung finden. Da das Gedicht nach dem ersten Lesen vorwiegend von der Natur handelt, ordne ich das Gedicht der Gattung der Naturlyrik zu.

Der Titel "Nachtzauber" verbindet zwei Bereiche, die das Gedicht prägen: Die Nacht und die Mystik. Mystik ist ein von Eichendorff gerne verwendetes Element seiner romantischen Gedichte. Ich würde sagen, dass der Titel sehr gut zu dem Gedicht passt. Die Natur und der Zauber werden in dem Gedicht benutzt, um den Liebeskummer des lyrischen Ichs angemessen darstellen zu können. So denkt der Leser erst nicht an den Liebeskummer, also den eigentlichen Inhalt des Gedichts, sondern stellt sich die Natur vor. Ihm fällt erst später das eigentlich Wichtige in dem Gedicht, der Liebeskummer des lyrischen Ichs, auf.
Dennoch bin ich der Ansicht, dass das Gedicht voll und ganz seinem Titel gerecht wird.



Bei dem vorliegenden Gedicht "Nachtzauber" handelt es sich zweifelsfrei um ein Gedicht der Epoche der Romantik. Zum einen, da es von Joseph von Eichendorff geschrieben worden ist, einem der bedeutendsten Dichter der Romantik. Zum anderen lässt sich auch am Gedicht selbst festmachen, dass es sich um ein Gedicht der Romantik handelt. Auffällig ist vor allem der Naturbezug sowie die Sehnsucht nach Ferne und Liebe. Ein weiteres typisches Merkmal romantischer Gedichte ist die Flucht aus der Realität in eine Traumwelt. Dies wird in diesem Gedicht ganz besonders deutlich: Das lyrische Ich träumt von vergangener Zeit und der vergangenen Liebe und verspürt außerhalb der Traumwelt in der Realität Liebeskummer. Diese Flucht aus der Realität in eine Phantasiewelt kommt aber nicht von ungefähr. Sie ist eine Reaktion der Romantiker auf das Leid der Napoleonischen Kriege und der Französischen Revolution, aber auch auf die Industrialisierung und die damit verbundene Zerstörung der Natur und die Trennung von Familien. Aus diesem Grund bin ich der Ansicht, dass es sich bei dem Gedicht "Nachtzauber" um ein Gedicht der Romantik handelt.



Abschließend kann man sagen, dass sich somit meine Deutungshypothese, dass "Nachtzauber" ein romantisches Gedicht ist, bestätigt hat. Das lyrische Ich empfindet Liebeskummer und flüchtet sich in eine Traumwelt, die aus Erinnerungen an die Geliebten besteht.
Mir gefällt das Gedicht sehr gut. Es lässt sich sehr gut lesen und ist auch vom Inhalt her ansprechend. Besonders gut gefällt mir, dass dem Leser zunächst das Wichtigste im Gedicht, der Liebeskummer, verborgen bleibt, und der Leser erst nach und nach darauf gebracht wird.

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