Samstag, 30. Dezember 2051

Interpretation: "Die Stadt" (Alfred Lichtenstein, 1913)

Die Stadt, 1913

1     Ein weißer Vogel ist der große Himmel.
2     Hart unter ihn geduckt stiert eine Stadt.
3     Die Häuser sind halbtote alte Leute.

4     Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel.
5     Und Winde, magre Hunde, rennen matt.
6     An scharfen Ecken quietschen ihre Häute.

7     In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du –
8     Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände…
9     Ein Haufen um ihn staunt und grinst voll Spott.

10   Drei kleine Menschen spielen Blindekuh –
11   Auf alles legt die grauen Puderhände
12   Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott.


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In dem Gedicht "Die Stadt" (1913) von Alfred Lichtenstein gehts es neben der in der Stadt herrschenden Verschmutzung um die Anonymität und Gefangenschaft, der die Menschen in der Stadt ausgesetzt sind.

Nach dem ersten Lesen habe ich den Eindruck, dass das Leben in der Großstadt kaum positive Seiten beinhaltet. Bilder und Wortwahl erzeugen negative Gefühle von Einsamkeit, Trostlosigkeit und Depression.

Das Gedicht beginnt in der ersten Strophe mit der Beschreibung des Himmels, der sich über die Stadt erstreckt. Dort in der Stadt befinden sich Häuser, die alt und marode sind. Im Folgenden treten die ausgemärgelten Tiere in der Großstadt auf, so zuerst ein Droschkenschimmel, dann Hunde. In der dritten Strophe geht das lyrische Ich auf das zwischenmenschliche Verhältnis ein. Es steht ein Mann auf der Straße und jammert seiner Geliebten nach. Doch er räumt damit nur den Spott der Mitbewohner ein. Die letzte Strophe beschreibt drei Kinder, die Blindekuh spielen, bevor mit dem Nachmittag gegen Abend die Dämmerung einsetzt. Dies wird mit einem deprimierten Gott in Verbindung gebracht.

Das Gedicht besteht aus vier Strophen á drei Verse, also aus vier Terzetten. Als Metrum liegt ein fünfhebiger Jambus vor, der allerdings in Vers 7 durch einen sechshebigen Jambus gebrochen wird. Das Reimschema ist ein dreifacher Kreuzreim der Form abc abc abc abc. Auffällig in dem ausschließlich im Zeilenstil verfassten Gedicht sind die wenigen Enjambements (vgl. V. 7f.; V. 11f.) sowie die Personifikationen (vgl. V. 3). Außerdem bedient sich der Verfasser der Stilmittel der Alliteration (vgl. V. 4), Inversion (vgl. V. 9) und Antithese (vgl. V. 11: "graue[n] Puderhände"). Es lassen sich viele (Farb-)Adjektive in dem Gedicht finden. Der "weiße[r] Vogel" (V.1) ist ein Symbol.

Der Himmel über der Stadt, der mit einem "weiße[n] Vogel" (V. 1) personifiziert wird, steht für die Freiheit. Freiheit gibt es in der Stadt nicht, sondern nur Gefangenschaft. Das kann man daran erkennen, dass sich die Stadt unter den Himmel duckt und in die Freiheit, den Himmel, scheinbar sehnsüchtig "stiert" (V. 2). So wird der Kontrast zwischen Freiheit und Gefangenschaft durch den Kontrast zwischen Himmel, der auch stellvertretend für die Natur stehen könnte, und den Menschen verdeutlicht. Die Personifizierung der Häuser ("Die Häuser sind halbtote alte Leute", V. 3) lässt auf den alten, maroden Zustand der Häuser schließen, der sich möglicherweise auch auf deren Bewohner projezieren lässt.
Die Perspektive wechselt vom Blick auf den Himmel zum Blick auf die Stadt. Die dort lebenden Tiere sind mager, dünn und matt (vgl. V. 4-6). Sie befinden sich in einem vom Futtermangel herrührenden, miserablen gesundheitlichen Zustand. Die Tiere stehen, wie der Himmel, stellvertretend für die gesamte Natur, die vom Menschen nicht repektiert oder geachtet wird. Der durch die Alliteration ("griesgrämig glotzt", V. 4) gestärkte griesgrämige Blick des "Droschkenschimmel[s] (V. 4) macht auf den Umgang des Menschen mit Tieren aufmerksam: Die Tiere werden vom Menschen vernachlässigt und gleichzeitig als Arbeitsmaschinen ausgenutzt.
Das zwischenmenschliche Verhältnis ist geprägt von Gruppenzwang und Anonymität, beziehungsweise Identitätsverlust. Der Mann, der im Gedicht um seine Geliebte jammert, wird zum Gespött der Leute. Diese sind gefühlskalt und emotional derart abgestumpft, dass sie den Mann als "Irre[n] (V. 7) bezeichnen, bloß weil dieser zu seinen Gefühlen steht und sich nach Liebe sehnt, während die große Masse weit entfernt von solchen Gefühlen und Gedanken ist. Die Gesellschaft gibt also vor, seine Gefühle zu verbergen und seine Individualität abzulegen, um in kompletter Anonymität zu leben.
In der Stadt gibt es keine Kinder, sondern nur "kleine Menschen" (V. 10).  Sie spielen Blindekuh, ein Spiel, bei dem der eine mit verbundenen Augen die anderen, die die "blinde Kuh" provozieren, fangen muss. Dieses Spiel lässt sich auf die Gesellschaft übertragen: Zum einen bezieht sich "kleine Menschen" (V. 10) auf alle Menschen, die in der Gesellschaft leben. Zum anderen wird wieder eine Person von den anderen isoliert. Wie dem "Irre[n] (V.7) geschiet dies erneut einem einzelnen Menschen, der wie gefangen zu sein scheint.
Der Nachmittag legt "die grauen Puderhände" (V. 11) auf die Stadt. Die "grauen Puderhände" (V. 11) bilden eine Antithese, da Puder normalerweise mit der Farbe Weiß assoziiert wird, anstatt mit Grau. Dies soll die durch den respektlosen Menschen verursachte Umweltverschmutzung durch den Rauch der Fabrikschlote verdeutlichen. Der Nachmittag könnte auch ein Anzeichen für die bald eintretende Apokalypse sein. Feststeht, dass der "sanft verweinte[r] Gott" (V. 12) in der Großstadt so deprimiert ist wie die Menschen, die in "seiner" Stadt leben und diese zugrunde richten.

Somit kritisiert das lyrische Ich das Leben in der Stadt, den repektlosen Umgang der Menschen mit der Natur sowie das Verhalten der Städter untereinander.

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